Scannen Psychotherapeuten ständig ihre Mitmenschen?

Ein Psychotherapeut in Aktion mit einem Patienten
© Elisatim/Westend61/dpa-tmn

Interview

Gießen (dpa/tmn) - Wer an Psychotherapie denkt, hat bestimmte Bilder im Kopf: eine bedeutungsschwere Ledercouch, durchdringende Blicke, ruhige Fragen – und ein Therapeut, der sein Leben komplett im Griff hat. 

Doch wie viel Wahrheit steckt hinter unseren Vorstellungen von den Menschen, die in unser Inneres schauen? Rudolf Stark ist Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften. Im Interview klärt er über verbreitete Klischees rund um seinen Berufsstand auf.

Herr Stark, Psychotherapeuten wird nachgesagt, dass sie feinste Details im Verhalten analysieren. Würde mein Therapeut heimlich testen, welchen Stuhl ich mir im Raum aussuche?

Rudolf Stark: Das ist sehr unterschiedlich. Normalerweise mache ich es immer so, dass ich den Patienten entscheiden lasse, wo er sitzen möchte. Und da achte ich nicht drauf. 

Aber ich habe Situationen von anderen Therapeuten erzählt bekommen, dass eigentlich die beiden Plätze im Therapieraum unterschiedlich waren und dementsprechend klar sein sollte, welcher der Therapeutenplatz ist. Und wenn sich dann jemand einfach direkt auf den Platz des Therapeuten setzt, dann wäre das ein Hinweis. Ich persönlich will das aber nicht überbewerten.

Anders gefragt: Scannen Psychotherapeuten ständig ihre Mitmenschen – auch privat?

Stark: Die erste Antwort wäre sicher, man schaltet ganz ab. Die zweite Antwort wäre: Wir können natürlich unser psychologisches Wissen nicht abschalten. Das heißt, es ist sicherlich immer etwas im Hintergrund.

Aber ich versuche in meinem privaten Umfeld, psychologische oder psychotherapeutische Themen möglichst immer zu vermeiden, weil man dann wirklich einfach Mensch sein will und nicht Psychotherapeut.

Haben Psychotherapeuten ihr eigenes Leben eigentlich perfekt im Griff?

Stark: Häufig gibt es sogar eher das Vorurteil: Psychotherapeuten haben alle einen an der Klatsche und besuchen selbst einen Therapeuten. In Wirklichkeit ist es so, dass Psychotherapeuten ganz normale Menschen sind, die auch eigene Probleme haben. Die grundsätzlichen Lösungsfähigkeiten, die sie in ihrem Job haben, können sie dabei zum Teil für sich selbst nicht nutzen.

Also, es ist tatsächlich so, dass man nicht davon ausgehen kann, dass Psychotherapeuten per se ihr Leben viel besser im Griff haben.

© dpa-infocom, dpa:250505-930-503523/1
Prof Dr. Rudolf Stark
Rudolf Stark ist Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften.© Rolf K. Wegst/dpa-tmn
Rudolf Stark ist Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften.
© Rolf K. Wegst/dpa-tmn

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