112-Fehlalarme: "Können Sie mir den Pool auffüllen?"

Tausendfach rückt der Rettungsdienst bei uns jedes Jahr aus - ohne dass ein Notfall vorliegt. Die Folgen können dramatisch sein. Exklusive Recherche aus Mülheim, Oberhausen, dem Kreis Wesel, Gladbeck, Bottrop und Gelsenkirchen.

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"Wir riskieren zu jedem Einsatz unser Leben - eine Blaulichtfahrt, die ist nicht ohne", sagt Notfallsanitäter Björn Lübbecke. Er steht vor seinem Rettungswagen an der Feuerwache in Mülheim-Heißen, jederzeit einsatzbereit. Seit zwei Stunden ist er im Dienst, 22 Stunden folgen noch. Wenn Menschen in Not sind und die 112 rufen, kommen er und seine Kollegen, um zu retten. Aber längst sind es nicht mehr nur Notfälle, die Björn behandelt: "Letztens wurde ich alarmiert zu einem schmerzhaften Bein. Am Ende war das ein ganz normaler Muskelkrampf von jemandem, der zu viel gelaufen ist." Und ab und zu werde er sogar als Taxi missbraucht. "Die sagen, mit Ihnen komme ich schneller dran. Oder ein Taxi ist zu teuer. Das ist dann wirklich frustrierend."

Jeder vierte bis fünfte Notfall ist eigentlich gar keiner

Notfalleinsatz beim Rettungsdienst in Mülheim© Feuerwehr Mülheim
Notfalleinsatz beim Rettungsdienst in Mülheim
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Solche Fälle kommen immer wieder vor, wie unsere Recherche zeigt. Bei den Feuerwehren in Mülheim, Oberhausen, im Kreis Wesel, in Gladbeck und Gelsenkirchen kommt es jedes Jahr tausendfach zu Fehleinsätzen. Also dazu, dass Rettungswagen alarmiert werden, obwohl die 112 eigentlich gar nicht hätte gerufen werden dürfen. Viele Feuerwehren erfassen die Zahlen nicht genau, geben aber Schätzungen ab. So geht die Feuerwehr Gelsenkirchen davon aus, "dass in mindestens 25% der Einsätze keine Notfallindikation vorliegt". Auch der Leiter der Kreisleitstelle Wesel teilt diese Einschätzung auf unsere Anfrage - betont aber, dass keine konkreten Zahlen vorliegen würden. Die Feuerwehr Oberhausen hat im vergangenen Jahr 20 Prozent klar definierter Fehleinsätze gezählt. "Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen". Bei der Feuerwehr in Mülheim geht man davon aus, dass geschätzt jeder fünfte Einsatz kein wirklicher Notfall ist. Die Feuerwehr Bottrop will sich auf Nachfrage nicht auf eine Schätzung festlegen.

So viele mutmaßliche Fehleinsätze gibt es geschätzt bei uns

Feuerwehr Gelsenkirchen soll Swimmingpool auffüllen - "Machen wir nicht!"

Die wenigsten Fehlalarme sind Kinderstreiche. Die Feuerwehr Oberhausen zählte im vergangenen Jahr zum Beispiel nur 18 böswillige Alarmierungen. Viele Menschen seien sich nicht sicher, wann sie den Notruf wählen könnten, hören wir von vielen Feuerwehren. Außerdem wüssten gerade ältere Menschen, die alleine lebten, sich oft gar nicht anders zu helfen, als beim Rettungsdienst anzurufen. "Jeder, der anruft, empfindet sich als Notfall", sagt der Leiter der Kreisleitstelle Wesel. Die Erwartungshaltung sei oft klar: "Schicken Sie mal einen Rettungswagen!"

Yasin Steffen in der Leitstelle der Feuerwehr Gelsenkirchen© Radio Emscher Lippe
Yasin Steffen in der Leitstelle der Feuerwehr Gelsenkirchen
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Das kann auch Yasin Steffen nachvollziehen. Er arbeitet in der Leitstelle der Feuerwehr Gelsenkirchen. 300 Notrufe kommen dort pro Tag an, alle paar Sekunden klingelt es. Yasin bleiben 60 Sekunden Zeit, um zu entscheiden: Notfall oder kein Notfall? Sein kuriosester Anruf: "Können Sie mir mal meinen Pool auffüllen?" Das sei im Sommer schon zweimal vorgekommen. "Machen wir natürlich nicht!" Er wünscht sich, dass die Menschen selbstständiger werden. "Einfach den gesunden Menschenverstand einsetzen". Die 112 werde immer mehr zur Servicehotline - die steigenden Einsatzzahlen bei fast allen Feuerwehren bestätigen diesen Eindruck.

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Fehlen Rettungswagen bei echten Einsätzen?

Die Belastung für Rettungskräfte steigt seit Jahren - weil auch die Zahl der Einsätze immer weiter steigt. Im Jahr 2009 gab es bei der Feuerwehr Mülheim noch 11.762 Einsätze pro Jahr - im vergangenen Jahr waren es 20.775. Die Feuerwehr Gelsenkirchen verzeichnet in jedem Jahr rund 5 Prozent mehr Rettungseinsätze. Entsprechend wird mehr Personal eingestellt - und das kostet Geld. Für die Patienten, die wirklich Hilfe brauchen, kann das im schlimmsten Fall dramatische Konsequenzen haben. "Die Wahrscheinlichkeit, dass ein RTW mal für einen "wirklichen" Notfall fehlt, erhöht sich somit", sagt uns die Feuerwehr Mülheim. Auch die Feuerwehren in Gelsenkirchen, Wesel, Gladbeck, Oberhausen und Bottrop teilen diesen Eindruck. Konkrete Beispiele gibt es aber nicht, weil oft nicht erfasst wird, wer ein "wirklicher Notfall" ist und wer nicht. "Beim Herzinfarkt oder beim Schlaganfall kann es wirklich um Sekunden gehen. Und da kann es dazu führen, dass der Patient, der dringend unsere Hilfe benötigt, lange auf die Hilfe wartet", sagt Notfallsanitäter Björn.

Wann rufe ich die 112 - und wann nicht?

Es sei "eine Gratwanderung, da die Bürger*innen keine Hemmungen haben sollen, den Notruf zu wählen, andererseits dies auch nicht für Kleinigkeiten geschehen soll", sagt uns die Feuerwehr in Bottrop. Die Fehleinsätze beim Rettungsdienst alleine auf eine "Vollkaskomentalität" der Bevölkerung zurückzuführen oder in jedem Fall "Dreistigkeit" zu unterstellen, führe zu kurz. Häufiger sei es einfach "Unsicherheit bei den Betroffenen im Umgang mit gesundheitlichen Problemen." Leitstellen-Disponent Yasin aus Gelsenkirchen sagt: "Bei lebensbedrohlichen Fällen kann man immer anrufen!" Die Gelsenkirchener Feuerwehr hat für uns die wichtigsten Symptome zusammengestellt, bei denen ihr bei der 112 richtig seid.

  • Atemnot: Dahinter können zahlreiche ernsthafte Erkrankungen stehen. Zum Beispiel ein Herzinfarkt, eine Lungenembolie, allergische Reaktionen, eine Herzschwäche oder eine Lungenentzündung.
  • Starke Schmerzen in der Brust oder im Rücken zwischen den Schulterblättern: Bei diesen Symptomen kann ein Herzinfarkt vorliegen.
  • Starke Bauchschmerzen: Bei Oberbauchschmerzen kann es sich ebenfalls um einen Herzinfarkt handeln. Möglich sind bei starken Bauchschmerzen auch akute Erkrankungen von Organen im Bauchraum sowie Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, Gallensteine oder eine Blinddarmentzündung.
  • Bewusstlosigkeit/Ohnmacht bei anderen: Hinter einer Veränderung der Bewusstseinslage können zahlreiche ernsthafte Erkrankungen stecken. Etwa ein Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Stillstand, ein Krampfanfall, eine Vergiftung oder Schädelverletzung.
  • Sprachstörungen und einseitige Lähmungen: Bei „verwaschener“ Sprache und/oder einseitiger Lähmung der Gesichtsmuskulatur beziehungsweise Kraftlosigkeit einer Extremität (Arm und/oder Bein) liegt mit großer Wahrscheinlichkeit ein Schlaganfall vor.
  • Verbrennungen, Hitzschlag, Vergiftungen, Erstickungen: Bei Verbrennungen gilt die Faustregel: Rettungsdienst rufen bei Verbrennung von 10-15 Prozent der Hautfläche (Erwachsene) bzw. 5-10 % (Kinder). Sollten Sie sich unsicher sein und die Schwere der Verbrennung nicht abschätzen, rufen Sie in jedem Fall die 112.
  • Starke Blutungen: Egal, was die Ursache ist (Unfall, Unachtsamkeit, Krankheit, …) – bei starken Blutungen sind schnelle Reaktionen notwendig, vor allem bei der gleichzeitigen Einnahme von gerinnungshemmenden Medikamenten. Schon 1 Liter Blutverlust bei einem Erwachsenen kann lebensbedrohlich sein.
  • Plötzliche Komplikationen während einer Schwangerschaft: Treten im Verlauf einer Schwangerschaft plötzlich Symptome auf wie starke periodenähnliche Schmerzen, Blutungen, Kreislaufprobleme oder Sturz, ist sofort die 112 zu rufen. Die Rettungskräfte bringen Sie dann sofort in eine Notaufnahme mit angeschlossener Gynäkologie.
  • Stromunfall: Haben Sie einen Stromschlag erlitten, können Sie noch Stunden später einen Herzstillstand erleiden – selbst, wenn es Ihnen zunächst gut geht. Bemerken Sie nach dem Stromunfall Herzrasen, Herzstolpern, Atemnot oder ein Krampfgefühl, ist erst recht keine Zeit zu verlieren.

Quelle: Feuerwehr Gelsenkirchen

In vielen anderen Fällen seid ihr hingegen bei der 116117 besser aufgehoben - dem ärztlichen Bereitschaftsdienst. Hier wird euch rund um die Uhr bei weniger dringenden gesundheitlichen Problemen geholfen, mit denen ihr aber auch nicht bis zur nächsten Sprechstunde beim Arzt warten wollt.

Benötigt ihr einen Krankentransport, hilft die Nummer 19222 weiter.

Notfall-App soll Rettungskräfte entlasten - so könnt ihr mitmachen

Mit der Mobile-Retter-App können Freiwillige zum Lebensretter werden. Anmelden können sich alle Menschen mit entsprechender Qualifikation, zum Beispiel Ärzte, Soldaten, THW-, DLRG- Angehörige, Gesundheits- und Krankenpfleger und natürlich auch Rettungsdienstler und Feuerwehrleute. Passiert in der Nähe ein Notfall, wird man über die App alarmiert und kann erste Hilfe leisten - und im Idealfall die Rettungskräfte entlasten. In Mülheim gibt es die App schon, dort wurden schon 110 Einsätze absolviert. 259 Retter seien registriert. In Oberhausen soll die App im Jahr 2025 folgen.

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